Zum Bildungsverständnis in Zeiten künstlicher Intelligenz

Von am 09.01.24

Technologische Weiterentwicklungen stellen Akteur:innen im Bildungssystem vor allem hinsichtlich des Umgangs mit generativer künstlicher Intelligenz derzeit vor große Herausforderungen. Grundlegende Transformationsprozesse an Schulen und Hochschulen sind unumgänglich, um Kinder und Jugendliche darauf vorzubereiten, mit aktuellen und zukünftigen Herausforderungen kompetent umzugehen. Im aktuellen Diskurs um den Einsatz künstlicher Intelligenz tritt jedoch erneut ein veraltetes Bildungsverständnis zu Tage, das der Kultur der Digitalität längst nicht mehr gerecht wird und schulische Transformationsprozesse behindert.

Im aktuellen Diskurs um den Einsatz künstlicher Intelligenz tritt jedoch erneut ein veraltetes Bildungsverständnis zu Tage, das der Kultur der Digitalität längst nicht mehr gerecht wird und schulische Transformationsprozesse behindert.

Eine Neuausrichtung im Bildungsbereich ist nicht erst seit der Entwicklung innovativer KI-Tools überfällig. Bereits mit Beginn des neuen Jahrtausends lässt sich der Prozess der Digitalisierung in einer beispiellosen Breite und Tiefe nachverfolgen. Damit einher gehen grundlegende kulturelle Veränderungsprozesse, die auch unser Bildungssystem beeinflussen. Menschen entwickeln im Analogen wie im Digitalen neue Handlungsgepflogenheiten, vernetzen sich und tauschen sich in analogen wie digitalen Gemeinschaften miteinander aus. Sie müssen dabei kritisch mit vielfältigen Informationen umgehen und Zusammenhänge verstehen. Von Schulen wird in erster Linie erwartet, dass sie digitaler werden und aktuelle Entwicklungen aufgreifen. Diskutiert werden im Kontext künstlicher Intelligenz jedoch erneut die falschen Fragen: „Welche Ziele habe ich im Unterricht, und wie kann ich diese mit Hilfe digitaler Tools besonders gut erreichen?“ Oder: „Kann ich bestimmte Tools verbieten, da sie meinen Unterricht in der bisherigen Form gefährden?“

Wer so fragt, verschenkt das transformative Potential von Lehr- und Lernsettings in der Kultur der Digitalität (Stalder 2016). Um bestehende Vorstellungen von Schule und Unterricht zu verändern, müssen sich Akteur:innen im Bildungsbereich gemeinsam auf den Weg machen, um neue Zieldimensionen zu erschließen, die gesellschaftlich und individuell bedeutsam sind. Dazu zählen gemäß der KMK 2021 vor allem das gemeinschaftliche Lösen von Problemen, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, Kreativität, kompetentes Handeln und kritisches Denken. Zieldimensionen, die auch im Umgang mit Künstlicher Intelligenz handlungsleitend sein sollten, damit Technologien nicht nur genutzt wird, um Schülerinnen und Schülern individualisierte Lernangebote zu machen, die dann abgearbeitet werden müssen, oder um die herkömmliche Praxis der Leistungsbewertung digital zu optimieren.

Dieser Praxis liegt ein veraltetes Bildungsverständnis zugrunde, das sich auch durch das Etikett digital kaum weiter entwickelt hat. Der Begriff der Digitalen Bildung wird weder klar definiert noch einheitlich verwendet. Häufig wird er synonym zum Digitalen Lernen gebraucht. Grob zusammengefasst setzt Bildung Lernen unbestritten voraus, doch nicht jeder Lernprozess führt letztendlich zu Bildung. Während Lernen ist an eine mehr oder weniger bewusste Bewältigung von Aufgaben geknüpft ist, zeichnet sich Bildung durch ein distanziertes Verhältnis zur Praxis der Bewältigung von Problemen und Aufgaben aus (Borst, 2020, S. 21) Die synonyme Verwendung negiert entsprechende Unterschiede und Zusammenhänge und kann als bewusste Komplexitätsreduktion interpretiert werden, die einer bestimmten bildungspolitischen Richtung Vorschub leistet. Lernen wird in erster Linie im Kontext der Verwertbarkeit betrachtet und nach ihrer ökonomischen Brauchbarkeit beurteilt (Borst, 2020, S. 18). Der Begriff digital wird in seiner Bedeutung auf eine Eigenschaft von Technologien reduziert. Auch KI-Tools dienen in diesem Verständnis lediglich als Werkzeuge, deren Einsatz den Erwerb von Kompetenzen und den Aufbau von abrufbarem Wissen digital unterstützt mit dem Ziel, ökonomisch zu reüssieren. Lernen an sich „verkommt zur reinen Technologie“ (Borst, 2020, S. 18), da es ausschließlich auf die Erfordernisse des Arbeitsmarkts hin zugeschnitten wird und nicht an die subjektiven Erfahrungen der Lernenden anknüpft. Werden entsprechende Lernprozesse, die vornehmlich an die instrumentelle Bewältigung tradierter Aufgabenformate geknüpft sind, als Voraussetzung Digitaler Bildung betrachtet, ist der neu etikettierte Bildungsbegriff auch in Zeiten künstlicher Intelligenz nicht mehr als eine attraktive Worthülse ohne transformatives Potential, der die individuellen Bedürfnisse und Erfahrungen der Lernenden ausspart.

Was wäre an Schulen demnach zu beachten? Modelle wie ChatGPT verändern zunächst einmal radikal den gewohnten Schreibprozess. Das bedeutet aber nicht, dass Heranwachsende von nun an keine Schreibkompetenzen mehr benötigen, weil das Tool die gestellten Aufgaben vermeintlich erledigt. Es geht vielmehr darum, allen Schülerinnen und Schülern Zugänge zu innovativen Technologien zu eröffnen und gleichzeitig schulische Aufgabenformate so verändern, dass sie lernen, zum Einen das Potential der generativen KI im Rahmen des eigenen Schreibprozesses reflektiert und kompetent zu nutzen. Zum Anderen müssen sie aber auch eine hohe Sensibilität für Falschinformationen entwickeln, die mit dem exponentiellen Wachstum künstlich generierter Texte automatisch einhergeht. Nicht zuletzt bedarf es klarer Regelungen, wie entsprechende Anteile im Verlauf des Schreibprozesses zu kennzeichnen sind.

Schülerinnen und Schüler brauchen dafür anregende Lerngelegenheiten, in denen sie ein Gefühl dafür entwickeln können, was es heißt, mit KI verantwortungsbewusst und kompetent zu arbeiten – etwa in kreativen Schreibwerkstätten. Auch Studierende an Hochschulen benötigen verstärkt Lerngelegenheiten, die sie darauf vorbereiten, sich schnell an neue Begebenheiten anzupassen, beim Lösen von Problemen mit anderen zu kooperieren und Lernen als kontinuierlichen Prozess zu begreifen, der mit dem Examen nicht beendet ist. Und nicht zuletzt sollten auch Lehrkräfte in Fort- und Weiterbildungen vielfältige Gelegenheiten erhalten, KI nicht nur für ihre Unterrichtsvorbereitung zu nutzen, sondern innerhalb veränderter Lehr-, Lern - und Prüfungsformate einzusetzen. Die Rahmenbedingungen werden sich auch zukünftig fortlaufend weiterentwickeln. Prüfungsordnungen und Lehrpläne sollten sich deshalb deutlich flexibler daran anpassen lassen, um den wachsenden Herausforderungen einer digitalen Welt auch zukünftig konstruktiv begegnen zu können.

Um die richtigen Entscheidungen treffen zu können, müssen Lehrende auf alle Fälle selbst tiefer in den Umgang mit innovativen Technologien eintauchen. Der persönliche Gebrauch und das echte Erleben veränderter Praktiken beispielsweise im Umgang mit sozialen Netzwerken und das Ausprobieren von Angeboten im Bereich künstlicher Intelligenz ist für Akteurinnen und Akteure im Bildungssystem unerlässlich, um disruptive Veränderungsprozesse auch wirklich zu begreifen und in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft wahrzunehmen. Die KI-Forscherin Prof. Doris Weßels fordert Mut und Experimentierfreude bei der Nutzung von Technologien, weil es eben keine vorgefertigten Muster und keine jahrelangen Erfahrungswerte gibt.

Für die Bildung der Zukunft und das System Schule bedeutet das: Gelingt die entsprechende Weiterentwicklung von Schule nicht, hinken Lehrende wie Lernende beim Umgang mit digitalen Medien und insbesondere mit KI-Technologien immer weiter hinterher. Dies wäre vor allem für Kinder und Jugendliche aus niedrigen sozioökonomischen Herkunftsmilieus äußerst nachteilig. Man spricht hier von einem Digital Divide. Damit ist gemeint, dass es vom sozio-demographischen Hintergrund der Nutzerinnen und Nutzer abhängt, wie digitale Medien genutzt werden. Bildungsdisparitäten sind weniger auf Unterschiede in der digitalen Ausstattung zurückzuführen. Ungleichheitsverstärkend wirken vielmehr die unterschiedliche Mediennutzung, -aneignung und -erziehung und vor allem Passungsprobleme mit schulischen Anforderungen. Vor allem deshalb entwickeln sich in Abhängigkeit der sozialen Herkunft mehr oder weniger vorteilhafte Konsequenzen in Bezug auf den individuellen Bildungserfolg.

Wird die Nutzung bestimmter generativer KI Modelle im Unterricht verboten, verlieren in erster Linie Kinder aus bildungsfernen Familien die einzige Möglichkeit, sinnvolle Nutzungsstrategien im Umgang zu erwerben, die über die des Schummelns hinausgehen.

Wird die Nutzung bestimmter generativer KI Modelle im Unterricht verboten, verlieren in erster Linie Kinder aus bildungsfernen Familien die einzige Möglichkeit, sinnvolle Nutzungsstrategien im Umgang zu erwerben, die über die des Schummelns hinausgehen. Schülerinnen und Schüler aus bildungsnahen Elternhäusern nutzen entsprechende Tools nämlich auch weiterhin aktiv für ihren Bildungserfolg und haben zudem häufiger Zugriff auf kostenpflichtige Versionen, die ihnen zusätzliche Bildungschancen eröffnen.

Wenn Schülerinnen und Schüler über die gleiche Ausstattung verfügen und in der Schule vielfältige Lerngelegenheiten vorfinden, die an ihre unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Vorerfahrungen auch im Umgang mit digitalen Medien und generativen KI Modellen anknüpfen, steigt die Wahrscheinlichkeit auf Bildungserfolg für alle deutlich an. Ob jedoch entsprechende Gelegenheiten dann auch tatsächlich genutzt und Chancen ergriffen werden, hängt zum einen von der Entscheidung oder dem Willen der Betroffenen ab, zum anderen aber von ihrer Fähigkeit, objektive Bildungsangebote in subjektive Bildung zu transformieren. Lehrenden kommt dabei vor allem angesichts fortschreitender Technologisierung eine entscheidende Rolle zu. Diese Rolle entspricht der von Lotsinnen und Lotsen in einer von Komplexität gekennzeichneten Welt: Sie eröffnen digitale Lernchancen statt sie zu verhindern und tragen dadurch entscheidend dazu bei, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler diese neuen Lernchancen für ihren Bildungserfolg auch nutzen können.

Literatur

Borst, Eva (2020). Theorie der Bildung. Eine Einführung. (5. Auflg.). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2020.

Hauck-Thum, Uta (2021). Grundschule in der Kultur der Digitalität. In. Was ist Digitalität? Philosophische und pädagogische Perspektiven, herausgegeben von Uta Hauck-Thum und Jörg Noller, Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg

Hauck-Thum, Uta (2022): Bildung im Kontext von Digitalität und Nachhaltigkeit, https://magazin.forumbd.de/lehren-und-lernen/bildung-im-kontext-von-digitalitaet-und-nachhaltigkeit/

Kultusministerkonferenz. Positionspapier zur Initiative Digitale Weiterbildung. 2021. https:// www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_09_09-Digitale- Weiterbildung.pdf.

Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Frankfurt: Suhrkamp.

Autorin

Uta Hauck-Thum ist seit 2018 Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Schulentwicklung in der Kultur der Digitalität sowie Künstliche Intelligenz in der Schule